Kleine Beiträge

Nachruf

Die Rudolf-Borchardt-Gesellschaft trauert um

Professor Dr. Wolfgang Schuller (1935–2020)

Der Verstorbene war von 2004 bis 2008 Vorsitzender der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, einige weitere Jahre stellvertretender Vorsitzender und bis zu seinem Tod Mitglied des Kuratoriums der Gesellschaft. In einer schwierigen, durch Konflikte gekennzeichneten Zeit hat er die Gesellschaft auf einem sicheren Kurs gehalten und ihr wichtige neue Impulse gegeben.

Der promovierte Jurist und habilitierte Historiker war seit 1976 Professor für Alte Geschichte an der Universität Konstanz. Insbesondere mit den Büchern, die seit seiner Emeritierung 2004 erschienen, wirkte er in eine breite Öffentlichkeit hinein: Mit einem konzisen Zugriff auf das von ihm souverän beherrschte Quellenmaterial und die gesamte Forschungsdiskussion sowie mit bestechender stilistischer Brillanz machte er heutigen Leserinnen und Lesern klar, was wir von antiken Personen wie Cicero oder Kleopatra oder von einer gesellschaftlichen Gruppe wie den Hetären wissen und was uns an ihnen fasziniert oder befremdet. Mit nicht nachlassender Neugier und Empathie untersuchte Schuller aber auch Vorgänge der Zeitgeschichte wie „Die deutsche Revolution“ (2009), die das Ende der DDR bewirkte. Mit seinem letzten Buch „Anatomie einer Kampagne. Hans Robert Jauß und die Öffentlichkeit“ (2017) erwies er sich als begnadeter Polemiker, der Ungerechtigkeiten und Ungenauigkeiten in der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichtsschreibung nicht akzeptierte, sondern für einen unvoreingenommenen Blick auch auf umstrittene Personen der Zeitgeschichte wie den Romanisten Jauß, einen früheren Offizier der Waffen-SS, plädierte. Schuller war ein überzeugter, polyglotter Europäer, dessen Blick sich vor allem auf den Osten unseres Subkontinents richtete. Er war ein unendlich aufmerksamer Reisender, der seine Freunde immer wieder mit seinen luziden Reisenotizen erfreute.

In nahezu allen Publikationen Schullers spielt Rudolf Borchardt eine Rolle, mal eine eher versteckte, mal eine zentrale. Der universelle Blick auf die Geschichte, insbesondere auf die der Alten Welt, ist sicherlich ein wichtiges Moment, das die beiden Gelehrten miteinander verbindet. In den letzten Jahren hat uns Schuller mit zwei gewichtigen Abhandlungen zu Borchardt in Publikationen der Gesellschaft beschenkt: Zu dem Band „Rudolf Borchardt und die Klassik“ (2016) trug er den einleitenden Aufsatz „Rudolf Borchardts Homer“ bei, in dem er Borchardts letztes Buchprojekt zum Anlass nahm, die Bedeutung des am Anfang der abendländischen Literatur stehenden Epikers für das Werk Borchardts insgesamt zu untersuchen. Der Band „Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie“ (2017) wird mit einer Studie Schullers eröffnet, die den programmatischen Titel „Philologen mit Zukunft. Nietzsche, Borchardt, die Antike und der philologische Blick“ trägt.

Vorstand und Kuratorium der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft verlieren mit dem Tod Wolfgang Schullers einen unersetzlichen Mitstreiter, Ratgeber und Freund. Wir verneigen uns vor seiner immensen Lebensleistung, die uns auch weiterhin ein Wegweiser sein wird.

Prof. Dr. Dieter Burdorf
Vorsitzender der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft

Leipzig, den 7. April 2020 

Im Katalog 76 des Hamburger Antiquariats Dieter Gätjens war vor ein paar Jahren angeboten:

Hartmann von Aue. Der arme Heinrich und die Büchlein. Hrsg. von Moriz Haupt (1857). 2. Aufl. der „Lieder und Büchlein und des Armen Heinrich“ besorgt von E. Martin. Leipzig, S. Hirzel, 1881. XX, 148 S.
Handgeb. dunkelgrüner Maroquinband mit reicher ornamentaler Vergoldung auf Rücken und Deckeln, teilweise gepunzt. Kantenfileten u. Innenkanten mit zusätzl. Eckverzierungen. Farbige lithographierte Vorsätze mit Blumenmotiven. Kopfgoldschnitt. Signiert: Bremer Presse. [recte: Bremer Binderei.] (Rücken stärker verblichen u. Ecken etwas bestoßen).
Interessanter Band aus der Bibliothek von Rudolf Borchardt. Auf dem Vorsatz mit seinen verschlungenen Initialen und den lateinischen Einträgen: „MCMVI coempsi“ und „MCMXII denuo accepi“ und „DATE – ET – VOBIS – DABITUR“ – Borchardt plante schon für 1914 zusammen mit der Bremer Presse eine Übersetzung des „Armen Heinrichs“, die jedoch erst 1925 als Werkdruck der Bremer Presse erschien. Dieser Band war wohl die Vorlage für die Übersetzung. – In einem prächtigen Handeinband der Bremer Binderei. – Marbacher Kat. „Borchardt, Heymel, Schröder“ S. 332 f. (ausführlich)

Im Text sind nur wenige Marginalien zu finden. Zu den Versen 1339 f. hat Borchardt eine Umstellung gemäß der Handschrift B erwogen, die dann im Druck der Übersetzung (GW 383) auch ausgeführt ist (mit „ehrbarlich“ statt „tugentlîchen“), und zu den Versen 1353 f. (ebenda 384) hat er sich wohl in Anlehnung gleichfalls an B eine mögliche Variante („so sich“ statt „sich … sô“) notiert. Anstelle von „sî“ in Vers 1394 sollte es einer dritten Marginalie zufolge besser „diu“ heißen (ebenda 385: „sie“). Danach ist anzunehmen, daß Rudolf Borchardt statt dieses Bandes eine andere Ausgabe des Armen Heinrich – etwa die von Erich Gierach in der Germanischen Bibliothek (1913) – als Vorlage benutzt hat. Interessant bleibt das seltene Stück gleichwohl.

Einem Jüngeren in den Joram – eine frühe Fassung des Gedichtes, das die Jugendgedichte beschließt, teilt der Katalog des Antiquariats Walter Drews zu Borchardts 125. Geburtstag am 9. Juni 2002 mit:

Borchardt, Rudolf: Geschichte des Heimkehrenden (Das Buch Joram). Basel, Weihnacht 1905, gedruckt für Rudolf Borchardt in der Schweizerischen Verlags Druckerei. […]

Eines von 300 Exemplaren. Privatdruck. Auf der ersten Seite des vorhandenen Buchblocks steht folgender eigenhändiger und abgebrochener Versuch Borchardts: (Einem Jüngeren in den „Joram“): 

          „Nicht nur der des Vaters Thron
          Eingetauscht um Kreuz und Hohn,
          Alle seid ihr Gotteskinder,
          Keiner näher, keiner minder,
          Keiner um geringern Lohn:
          Handle nur so opferst schon
          Dich den Enkeln, Überwinder
          Lebst und stirbst zu Dan“

Vergleiche dazu Borchardts Ausgewählte Werke, Rowohlt 1924, S. 144, Borchardts Gedichte, Klett 1957, S. 118 und Kraft: Rudolf Borchardt, S. 201 und Anm. 1, die weitere Fassungen des Gedichtes bringen. Das Exemplar stammt aus Otto Denekes (1875–1956) Nachlaß, der in Berlin bei Gerd Rosen versteigert wurde (Auktion XXXI, 2. Teil, November 1958, Nr. 2032).

          Wenn doch, Zeus Vater und Athenaia und Apollon!
          Nicht einer der Troer jetzt dem Tod entginge, so viele sie sind,
          Und nicht einer der Argeier, und nur wir beide hervortauchten aus                  dem Verderben,  
          Daß wir allein die heiligen Stirnbinden Trojas lösten!
          (Il. 16, 97-100 in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt)

Das sagt Achill am Ende seiner Rede zu Patroklos, als er ihn in den Kampf ziehen läßt. Auf diesen erschreckenden Ausbruch hat in jüngerer Zeit der amerikanische Psychiater Jonathan Shay in seinem Achillbuch Achilles in Vietnam.

Combat Trauma and The Undoing of Character (1994) hingewiesen (S. 28): Achill gehe in seinem Zürnen über die von Agamemnon erfahrene Kränkung einmal sogar soweit, sich vorzustellen, daß nicht nur kein Trojaner, sondern auch kein Argeier dem Tod entginge, sondern nur er selbst und Patroklos übrig blieben. Und diese furchtbaren Verse sind mir vor einigen Monaten von ganz unerwarteter Seite her und in ganz unerwartetem Zusammenhang entgegengetreten, nämlich als handschriftliche Widmung in einer Miniaturausgabe des Horaz. Mit einem Brief schenkte mir Rudolf Borchardts jüngster Sohn Cornelius zum Dank für die Übersendung meiner Heidelberger Akademieschrift Rudolf Borchardts Antike Fotokopien aus diesem Büchlein schickte und erzählte dessen Geschichte. Die Horazausgabe von Gulielmus Pickering, London 1826, 8 cm hoch, 4 1/2 cm breit, war zum ersten Mal im November 1871 von einem Grafen Gozzi einem Giannegro Capelli handschriftlich verehrt worden¹. Dann hatte im März 1936 der Priester („sac.“ = sacerdote) Angelo Dini aus Monteggiori/Lucca sie dem Pfarrer („parroco“) Don Giuseppe Freddolini von Aquilea²“als Zeichen seiner Zuneigung“ geschenkt, und dieser reichte sie am 15. August des gleichen Jahres dem mit ihm befreundeten Rudolf Borchardt weiter „in großer Wertschätzung und gleicher Zuneigung“. Borchardt widmete sie im April 1939 mit jenen vier Versen aus der Ilias seinem Freund Rudolf Alexander Schröder. Nach Schröders Tod gelangte das kleine Buch an seine Nichte Marie Luise, die Witwe Borchardts, und diese schenkte sie ihrem Sohn Cornelius³.

Die vier von Borchardt aus dem Gedächtnis zitierten Verse lauten in seiner Fassung und mit seinen Fehlern so:

          Αί γάρ, Zεύ τε πατήρ καί Aθηναίη καί Aπόλλον,
          Mήτ ούν τίς Τρώων θάναον φύγοι ‚όσσοι ‚έασιυ
          Μήτέ τις ‚Αργείων, νώιν δ‘ έκσύμεν ‚όλεθρον
          ‚΄Οφρ‘ οίοι Τροίης ίερης κρήσεμνα λύοιμεν !

Allens Text hat dort, wo Borchardt abweicht: γάρ, πάτερ, Απολλον, μήτε τίς, ούν, μήτε τίς, οίοι, ίερά, λύωμεν.

Borchardts Widmung mit ihrer zentralen Botschaft „nur wir beide“ steht in einer Horazausgabe. Damit spielt der Freund auf das gemeinsame Jambendichten des Sommers 1935 in Borchardts Luccheser Villa Saltocchio in der Tradition der horazischen Epoden an und darüber hinaus auf sein und Schröders gemeinsames Ausrichten geistig-musischer Zweitausendjahrfeiern zu Horazens Geburt (65 v. Chr. – 1935 n. Chr.), nämlich Borchardts Jamben und Schröders Horazübersetzung. Aber in diesem Horazbüchlein stehen jetzt, im Jahr 1939, Iliasverse: Damit bezieht sich Borchardt einerseits auf Schröders Iliasübersetzung, die dieser spätestens Anfang 1934 begonnen hatte⁴ und die er im November 1943 an Borchardt schicken konnte⁵, und andererseits auf seine eigenen Homerstudien, die er von 1939 bis zu seinem Tod im Frühjahr 1945 mit monomanischer Energie betrieb.

Aber der Anspruch, der in diesen Versen steckt, geht über solche konkreten Arbeiten hinaus. Er besagt, daß es für die deutsche Kultur, die sich allein in schöpferischer Restauration aus der Tradition speisen könne, nur auf sie beide, auf Schröder und ihn, Borchardt, ankomme. Das entscheidende Wort in diesen Versen ist für Borchardts produktiven Blick und den Klammergriff seines Gedächtnisses der Dual νώιν gewesen: „wir beide“.

In dieser Widmung als einer Emprese, einem Motto, äußert sich eine bei Borchardt auch sonst zu beobachtende merkwürdige Konstanz seines Ideenhaushalts, dessen Stärke und Lebendigkeit sich in immer neuen Variationen artikuliert. Denn bereits im November 1904, 35 Jahre früher, hatte er in einem Gedicht „An Hofmannsthal“ den gleichen Gedanken ausgesprochen. Denn jenes Gedicht endete mit dem Wunsch, daß er, Borchardt „auf tiefen Wiesen“ sich „das Tier / In Zaum bereiten“ könne, „pisanische / Zucht von den Stuten Pelops“ und daß dieses „nah, / – Ah, nur zu weit nicht bleibe hinter dir (sc. Hofmannsthal), / Und auf der gleichen Straße uns Gespräch, / Und dich und mich das riesenhafte Ziel / Hoch in den Sätteln finde, Reitende / Durch Winter in die Nacht und Rauch von Rom.“

Allerdings ist auch die Differenz der beiden Gemeinsamkeitswünsche sprechend. Gegenüber Hofmannsthal 1904, „nah, / – Ah, nur zu weit nicht bleibe hinter dir“ ist noch ein indirektes Zitat der bekannten Worte des jüngeren Plinius in einem Brief an den etwas älteren und schon berühmten Tacitus, in denen dieser Vergil zitiert, einen Halbvers aus dem Buch der Wettkämpfe der Aeneis, Aen. 5, wo es in der Wettlaufepisode heißt: „longo sed proximus intervallo“ (v. 320). Plinius schreibt: „Ich war noch ein Jüngling, als du schon in Ruhm und Bekanntheit blühtest, und mein Verlangen ging dahin, Dir zu folgen, Dir zwar in weitem Abstand, aber doch der nächste zu sein und dafür angesehen zu werden“ (epist. 7,20,4)⁶. Borchardt kannte diese Stellen natürlich, wie auch ein Zitat in seinen „Nachwort“ zu seinem Dante / Deutsch von Rudolf Borchardt (1930) belegt⁷: „Ich will mit einer Stelle neben dem altrömischen Schulmeister (sc. Livius Andronicus, dem ersten literarischen Übersetzer Roms), longo sed proximus intervallo von den Großen, mein Werk für geborgen erachten.“ Im Jahre 1904 durfte und wollte er sich nur als den Zweiten sehen, gegenüber Hofmannsthal, ’nicht zu weit hinter ihm zurückbleibend‘, und er blieb gegenüber Hofmannsthal der zweite: „Hinter dir drein geordnet / Dort zu sein, wos Göttern gewehrt, Ungeheuer zu kennen.“⁸ 35 Jahre später – Borchardt war jetzt 62 Jahre alt – und gegenüber Schröder bildete er mit diesem ein Freundespaar, und er zitiert Worte Achills, womit Schröder in die Rolle des Patroklos rückt.

‚Wir beide‘, Hofmannsthal und Borchardt 1904, Schröder und Borchardt 1935 nach dem Tod von Hofmannsthal 1929: Der hybride und donquichotische Anspruch Borchardts, allein sowohl die europäische musisch-geistige Tradition als auch das wahre Deutschland zu repräsentieren, ja zu verkörpern, machte in der eisigen Echolosigkeit der Welt um ihn sein selbstgewähltes oberitalienisches Exil zu einer geradezu absoluten geistigen Einsamkeit. Daher wollte er sich doch in eine Zweisamkeit bannen, brauchte ein Du, um die Welt in ihre Schranken zu weisen. Selbst Achill, zürnend im Zelt, sich ausschließend von seinem Volk und doch auch Feind der Feinde der Seinen, war nicht ohne einen Patroklos.

Da die Iliasverse als Widmung auch den gemeinsamen Bemühungen der beiden Freunde um die Ilias gelten, soll nun, nach einer Wiederholung der Achillworte im griechischen Original (in der Gestalt, die sie in Allens Oxfordausgabe haben), auch Schröders Übersetzung zitiert werden:

Ilias 16, 97-100 (Allens Text)

          Αί γάρ, Ζεύ τε πάτερ καί ‚Αθηναίη καί ‚΄Απολλον,
          μήτε τις ούν Τρώων θάνατον φύγοι ‚όσσοι ‚έασιν
          μήτε τις ‚Αργείων, νώιν σ‘ έκσύμεν ‚όλεθρον
          ‚όφρ‘ οίοι Τροίης ίερά κρήσεμνα λύωμεν.

          Wenn doch, beim Zeus-Vater, beim Phoib-Apoll und Athene,
          Weder ein Troer dem Tod, so viel dort streiten, entrönne,
          Weder ein Danaer, sondern wir zwei entflöhn dem Verderben,
          Daß wir alleine den Gürtel der heiligen Ilion lösten!⁹

Wie wichtig und wie zentral diese Verse aber Borchardt in dieser Zeit waren, geht aus seiner großen Studie „Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer“ hervor, die er Ende 1944 bis zu seinem Tod am 10. Januar 1945 in Trins am Brenner ohne Bücher und ohne Iliastext niedergeschrieben hatte und die zum ersten Mal in dem Band Prosa II (Stuttgart 1959) publiziert wurde. Die Abhandlung ist in durchnumerierte Paragraphen oder Kapitel eingeteilt. § 57 (S. 47 f.) lautet: „Die Erfindung der Patroklosgestalt neben Achill ist von der Erfindung der troischen Familie neben Hektor her determiniert, nicht mehr im symmetrischen Sinne des hocharchaischen Stiles, sondern in den tief durchdachten großen Kontrasten des neuen, und stellt – im Gegensatze zu der liebevoll warmen Menschlichkeit um Hektor – neben den Einsamen auf der anderen Seite die einzige Form menschlicher Liebe, die selbst der Rohheit des Heerlagers zusteht, den Freund. Patroklos soll ihm alles sein, weil dies »Alles« das Einzige ist, und damit er dies Einzige, das ihm Alles ist, noch verscherze. Weil es das Einzige und Alles ist, muß es, solange Patroklos lebt, ins Vermessene überteuert werden – »Wenn doch, – gäbe das Zeus und Athenaie und Apollon!

– alle Achäer zumal und die sämtlichen Troer verreckten und wir zweie alleine die troische Veste erstürmten!«¹⁰, ein gerade durch seine Absurdität erschrekkender Blitz aus überreizter Seele, denn der Wunsch wäre ein Stoß in offene Türen, wenn er sich für alle Troer erfüllte, – und als Patroklos verscherzt und unwiederbringlich dahin ist, muß die Rache ins noch Vermessenere ausarten, nicht weil der Freund den liebsten Freund in der Schlacht verloren hätte, sondern weil dieser Verlust die ganze furchtbare Mine zündet, über der und mit der täglich zu leben nur der sanfte, der treuste, der ständig schützende, der vorausfühlende und mitlebende, schmerzlich innig menschliche Freund dem Seelenkranken möglich gemacht hatte, er, der für den Bewunderten und Begriffenen zu allem bereit gewesen war – zum Mute der vollen Wahrheit und zum Mute des Opfers.“

Wie die Widmung des Horaz mit den Iliasversen an Schröder nahelegt, darf man in dieser Charakteristik des Freundes Patroklos auch Borchardts Freund erkennen. Und selten ist eine Freundschaft schöner und dankender gefeiert worden als hier. Versteht man aber die Bedeutung, die Borchardt dem Patroklos in der Freundschaft mit Achill gibt, als gespeist aus der eigenen Erfahrung der Freundschaft Schröders, so schließt sich der Kreis zu einer frühen Widmung, und es bestätigt sich wieder die erstaunliche Konstanz und Treue in Borchardts Vorstellungskosmos. Denn was sagen die Verse, die handschriftlich auf den 10.12.1910 datiert sind¹¹, anderes als die über dreißig Jahre spätere Charakteristik des Achillfreundes Patroklos?

          Tausend Gesellen erbat ich vom Ewigen eh mir
          Gott in Einem
          Vergalt mit vollen Tausend die er mir weigerte
          Liebreich Herz, Du Geber, ich danke Dir, Rudolf
          Alexander
          Verteidiger, Bestätiger, Besänftiger.

1 Vgl. Rudolf Borchardt – Rudolf Alexander Schröder, Briefwechsel 1919–1945. Text. In Verbindung mit dem Rudolf Borchardt-Archiv bearbeitet von Elisabetta Abbondanza, Edition Tenschert bei Hanser, München und Wien 2001, S. 460.

2 Cornelius Borchardt teilt mir brieflich am 2.1.2007 die folgende „Erinnerung an Freddolini“ mit: „Er war Priester auf Aquilea, hoch oben über den Hügeln von Lucca. Er verehrte RB glühend, lud uns alle oft ein zur „smielatura“, wenn seine Bienenstöcke geerntet wurden. Dann gab es eine schier brechende Tafel mit toskanischen Schmankerln wie Feigen (keine homerischen, aber vielleicht horazische) mit Schinken und herrlichem Brot, von der „sorella“ gabacken, dazu die köstlichen Honigwabenscheiben und einen Wein, „von dem Guten“, di vello bono, wie er sagte (vello, für quello). Später, auf unserer Flucht, versuchten wir bei Freddolini Unterschlupf zu bekommen, aber dort waren bereits deutsche Truppenteile einquartiert.“

3 Die folgenden beiden Reproduktionen von Frontispiz und Titelblatt sowie zweier Seiten mit Widmungen erfolgen mit der freundlichen Genehmigung von Cornelius Borchardt.

4 Briefwechsel (Anm. 3), S. 358.

5 Briefwechsel (Anm. 3), S. 642.

6 Vgl. dazu Helmut Krasser, „extremos pudeat redisse – Plinius im Wettstreit mit der Vergangenheit. Zu Vergilzitaten beim jüngeren Plinius“, Antike und Abendland 39 (1993), S. 144–154; hier: S. 152–154. – Zu erinnern ist auch an Alessandro Manzonis handschriftliche Widmung seiner Adelchi an Goethe widmet: Er zitiert auf deutsch aus dem letzten Akt des Egmont die Worte Ferdinands zu Egmont: „Du bist mir nicht fremd. Dein Nahme war’s der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegenleuchtete. Wie oft hab‘ ich nach dir gehorcht, gefragt!“ (vgl. Giovanni Getto, Manzoni europeo, Milano 1971, Anm. 47 zu S. 197 auf S. 198).

7 Unter dem Titel „Epilegomena zu Dante II: Divina Commedia“ in Prosa II, S. 472–531; hier: S. 529.

8 Rudolf Borchardt, „Schatte von Rodaun“ (1935), v. 31 f. In: Jamben. In: Gedichte II,Übertragungen II. (Gesammelte Werke in Einzelbänden), hrsg. von Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1985, S. 30.

9 Rudolf Alexander Schröder, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Berlin und Frankfurt am Main 1952. Vierter Band: Homer deutsch.

10 Vgl. Ernst A. Schmidt, Rudolf Borchardts Antike. Heroisch-tragische Zeitgenossenschaft in der Moderne. Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 2006, S. 199 und 203.

11 Zitiert ist die Fassung (nach Wortlaut und Versabteilung) des Erstdrucks als Widmung der Jugendgedichte 1913 nach: RB, Gedichte2, S. 7 mit S. 579 (dort Hinweis auf Briefwechsel RB/Schröder 1901–1918, S. 304 mit der Fassung vom 10.12.1910).

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